„Der Sommer war groß … selten habe ich die Zeilen aus dem Rilke-Gedicht so stark empfunden, wie in diesen vier Monaten auf Hiiumaa, wo wir mit eurer Unterstützung begonnen haben, einen großen Garten anzulegen“, schreibt Christian Wittekindt (betula-gardens.de). Ich kenne ihn aus Fortbildungen in der Aromakunde und bin begeistert, mit wie viel Energie er die Vision von ‚Gärten der Zukunft‘ umsetzt. Eine Idee, die sowohl soziale als auch ökologische Aspekte vereint.

Christian und seine Frau Bea haben sie im Jahr 2018 auf der Insel Hiiumaa in Estland mit dem Projekt Moving Mägede initiiert. Nach erfolgreicher Ernte – auf vielen Ebenen – schreibt er am Ende dieses Sommers:

Der exemplarische Garten     

Natürlich kann die Umsetzung solch eines Vorhabens nach so einem kurzen Zeitraum nicht abgeschlossen sein. Zumal wir den Garten im Zusammenhang mit der Gestaltung der Hofstelle gesehen und begonnen haben. In den ersten acht Wochen bis Ende Juli legten wir den Gemüsegarten an, aber auch eine gärtnerische Gestaltung des Hofinneren, die exemplarisch die Themen des großen Gartens andeuten soll.

Dazu zählen die Verwendung der alten Blockbohlen als Gestaltungselement und Windschutz, aber auch die gemischte Verwendung von Wildobstgehölzen, Kräutern, Gemüse und einfach nur schönen Pflanzen. Bei der erstmaligen Teilnahme am Tag des offenen Hofes Ende Juli zeigten die etwa 150 Gäste großes Interesse für unsere sozialen und ökologischen Ansätze. Es gab einen regen Austausch und wir waren sehr erfreut, viele neue Nachbarn kennenzulernen.

Die Baggerhilfe

Der August war geprägt von unserem erstmalig veranstalteten Jugendseminar. Allerdings ließ die ungewöhnlich regenreiche und stürmische Witterung nur sehr wenig Raum für die weitere Gestaltung des Gartens. An einigen der etwas ruhigeren Tage wurden mit dem Bagger entlang der Straße die zukünftige Pflanzung von Linden und einer Obsthecke vorbereitet.

Im September beruhigte sich das Wetter, so dass wir wiederum mit Baggerhilfe die zukünftige Pflanzung einer breiten Windschutzhecke, von zirka vierzig hochstämmigen Bäumen und gemischten Wildobsthecken vorbereiten konnten. Ein Drittel der gesamten Gartenfläche ist dieser Nutzung gewidmet.

Zur gleichen Zeit konnten wir in einer renommierten estnischen Baumschule siebzig Obstbäume (Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen und Ebereschen) und fünfzig Obststräucher sehr günstig erwerben. Die wurzelnackten Pflanzen haben wir in den letzten Septembertagen an einer gut vorbereiteten Stelle dicht an dicht, wie in einer Baumschule, gepflanzt und mit einem Wollmantel versehen, der einiges an Aufsehen erregte.

Die Herbsttage

“Macht man das in Deutschland so?”, war die erstaunte Frage unserer Nachbarin Kadri. Den Tipp, ungewaschenes Wollvlies als Schutz vor Wildverbiss zu nutzen, hatten wir allerdings von Kristiina Hellström bekommen, einer bekannten estnischen Gartengestalterin aus Hiiumaa. Dennoch hoffen wir, dass der nächste Winter nicht ganz so hart wird wie der letzte!

In jedem Fall werden die jungen Bäume bei Winterbeginn noch mit einem Frostvlies im Kronenbereich versehen. Dies übernimmt dankenswerterweise Sirje für uns, eine estnische Freundin von der Insel, die wir im Sommer kennengelernt haben und die uns in dem gesamten Vorhaben sehr tatkräftig unterstützt.

Der Erntedank

Ich habe als Gärtner bei der Kultivierung des Gemüses viele überraschende Erfahrungen mit dem nordischen Klima gemacht. Die große Intensität der Sommersonne ließ trotz des späten Beginns der Gartenanlage viele Kulturen überraschend kräftig und gesund gedeihen. Überhaupt ist die Gesundheit, der Geschmack und das Aroma der kultivierten Pflanzen erstaunlich! Dies bestätigt den Eindruck, den wir schon von den wildwachsenden Heilpflanzen gewonnen hatten.

Viele der erwarteten Gäste aus Deutschland kamen wegen der wechselnden Corona-Bestimmungen und dem zusätzlichen Reiseaufwand nicht. Wir waren eine kleine Schar auf dem Hof, die ruhig und beständig arbeitend doch erstaunlich viel bewegt hat. Der zweite Corona-Sommer stand für uns im Zeichen vieler neuer Begegnungen mit unserem estnischen Umfeld!

Das Land und die Leute

Wir lernten weitere Nachbarn kennen, erlebten deren große Offenheit, Interesse und Gastfreundschaft. Auch besuchten wir das Camphill Pahkla, eine Einrichtung mit behinderten Menschen in der Nähe von Tallinn. Kristiina Hellström aus Hiiumaa und Sulev Vahtra von der Insel Muhu stehen als erfahrene Gartengestaltende beratend und begleitend an unserer Seite. Über sie haben wir auch renommierte Staudengärtnereien und Baumschulen kennengelernt.

Sirje Piir hilft uns als erfahrene deutsch-estnisch Dolmetscherin an unendlich vielen Stellen im Alltag, aber auch bei den EU-Förderanträgen, die wir jetzt im Herbst schreiben werden. Auf dezent hiiumaanische Weise wird uns von Seiten der örtlichen Bürokratie deutlich gemacht, dass wir mit unserem kleinen Projekt auf Mägede Talu als Bereicherung willkommen sind, obwohl wir nur wenige Arbeitsplätze schaffen und nur wenig Geld investieren können.

Unsere “Ernte” besteht sicherlich nicht nur in den verwirklichten Gartengestaltungen! Für vieles Zukünftige ist der Boden bereitet, nicht zuletzt durch die Beziehungen zu Land und Leuten. Die Anlage des Gartens und des Hofes gehen weiter- tasapisi – Schritt für Schritt.

Christian und Bea

Text und Fotos: Christian Wittekindt
(Christian und Bea) 

 

Das Projekt Moving Mägede

Die Grundlage des Projekts ‚Moving Mägede‘ bildet der Aufbau eines kleinen Gärtnerhofs (Gesamtfläche rund 11 ha) mit einem 3000 m² großen Gemüsegarten, Streuobstwiesen, Obst- und Wildrosenhecken und dem Anbau von Heil- und Gewürzkräutern. Wald und weite Wiesen ergänzen die zentral genutzte Zone um die Hofstelle.

„Auf dieser allmählich entstehenden Basis wollen wir einen Gästebetrieb aufbauen, der sich von April bis Ende September erstreckt und verschiedene Zielgruppen – zeitlich abgestimmt – ansprechen soll: von erholungssuchenden Familien, SchülerInnen für ein Landwirtschaftspraktikum bis hin zu einzelnen Gästen: Kräuterfreaks und Vogel-LiebhaberInnen, erholungssuchenden Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft -am liebsten eine bunte internationale Mischung!“, heißt es auf der Website. Neugierig? Dann gern weiterlesen und unterstützen: Moving Mägede.

Das Rilke-Gedicht

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke, Das Buch der Bilder (Paris 1902)

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