Gedichte und Prosa zum 50. Todestag:
Mit einer Auswahl an Texten und einem Vorwort zu ihrer literarischen Biografie wirft Daniel Kehlmann in diesem Buch aus dem dtv-Verlag einen persönlichen Blick auf das Werk von Mascha Kaléko. Der deutsche Schriftsteller nimmt uns mit auf die Lebensreise der Dichterin, die vom Schicksal ihrer jüdischen Familie geprägt ist. Ihre Gedichte und Prosa sind bis heute – und gerade heute – aktuell und relevant.
Die Welt braucht helle Bilder!
Dieser Satz einer Coaching-Kollegin kommt mir in den Sinn, als mir der Titel ins Auge fällt: ‚Ich tat die Augen auf und sah das Helle.‘ Das Maiglöckchen-Grün des Covers leuchtet mir entgegen. Es umrahmt das schwarz-weiße Foto der ‚undeutschesten deutschen Dichterin‘, wie Daniel Kehlmann sie nennt.
„Auch ich bin ‚ein deutscher Dichter, / Bekannt im deutschen Land“, / Und nennt man die zweitbesten Namen, / So wird auch meiner genannt.“ – Mascha Kaléko
Ihr Vers auf der Rückseite erinnert daran, dass Mascha Kaléko, wie viele deutsche Dichterinnen erst spät die gebührende Anerkennung erfährt. Dass sie keineswegs eine Zweitbeste ist, macht Daniel Kehlmann deutlich. Er würdigt sie als leuchtende Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur: die ‚Großstadtlerche, die glücklich und unglücklich Liebende, die berlinkranke Kosmopolitin. Niemand verkörpere das Berlin der Weimarer Republik zwischen Schreibmaschinengrau, hellen Kinoreklamen und nicht enden wollenden Nächten im Romanischen Café so sehr wie die melancholische Großstadtdichterin mit ihrem sprühenden Witz.
Melancholie ohne Grauschleier
Mascha Kalékos zunächst vielversprechende Karriere wird durch das Publikationsverbot der Nationalsozialisten jäh beendet. Im Jahr 1938 flüchten sie und ihr zweiter Ehemann Chemjo Vinaver mit dem gemeinsamen Sohn Steven aus Berlin. Die kleine Familie überlebt, zunächst in New York, später in Israel. In diesen schweren Jahren kommt die Künstlerin ganz zu sich. Immer wieder spiegeln ihre Texte den schmerzlichen Verlust von Heimat und das Gefühl der Fremdheit im Emigrantenleben.
„Ihre Texte haben nun nichts Geziertes mehr, sind voller Zorn und Traurigkeit. Mascha Kalékos Begabung gewinnt an Tiefe, ihre Reime bleiben perfekt“, schreibt Daniel Kehlmann in seinem Einstiegstext. Darin zitiert er andere Schriftsteller:innen, die sich ausführlich der Biografie Mascha Kalékos gewidmet haben. Er betont zudem die Aktualität ihres Werks – einem ‚Schatz an Form, Schönheit und weiser Melancholie‘.
„Solange man in deutscher Sprache überhaupt noch Gedichte liest, werden jene von Mascha Kaléko dabei sein.“ – Daniel Kehlmann
Mit diesem Fazit beendet Daniel Kehlmann seine Zusammenfassung über die bewegende Biografie der Dichterin, die nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihren Sohn und nur wenige Jahre später ihren Ehemann verliert. Diese Schicksalsschläge überwindet sie nie. Ihre Auseinandersetzung mit Krankheit, Tod, Verlust, Muttersein – aber auch nie endender Liebe – zieht sich durch ihre Texte. Kehlmann gelingt es, Biografisches und Literarisches zu einem wertschätzenden Portrait zusammenzufügen, das auch mich noch einmal staunend auf die Dichterin blicken lässt.
Deutschland, wohin geht die Reise jetzt?
Schon lange begleiten mich ihre Gedichte; auch mich fasziniert diese Melancholie ohne Grauschleier. Und gerade heute scheinen sie mir so lebendig wie nie zuvor. Wenn ich die Verse aus ‚Deutschland ein Kindermärchen‘ lese, die Mascha Kaléko während einer Deutschlandreise im Heine-Jahr 1956 und nach langen Jahren im Exil verfasste, frage ich mich: Deutschland, wohin geht die Reise jetzt?
„… Da kam der böse Wolf und fraß
Rotkäppchen“ – Weil die nicht arisch.
Es heißt: die Wölfe im deutschen Wald
sind neuerdings streng vegetarisch.“
Dann lese ich das Gedicht ‚Sonne‘ auf der letzten Seite im grünen Buch. Und inhaliere es Zeilen für Zeile, wie einen erhellenden Duft.
Ich tat die Augen auf und sah das Helle,
…
Und Licht ergoß sich über jede Stelle,
Durchwachte Sorgen gingen leis zur Ruh. –
Ich tat die Augen auf uns sah das Helle,
Nun schließ ich sie so bald nicht wieder zu.
Mascha Kaléko – LebensreiseMascha Kaléko wird am 7. Juni 1907 in Chrzanów in West-Galizien (heute Polen) mit dem Namen Golda Malka Aufen geboren. Im Jahr 1914 flieht ihre jüdische Familie nach Deutschland, um den Pogromen zu entkommen. Sie lebt zunächst in Frankfurt, dann in Marburg und ab 1918 im Berliner Scheunenviertel, wo Mascha zur Schule geht und später eine Bürolehre absolviert. Ihren Namen Kaléko bekommt sie durch die Heirat mit dem Journalisten und Philologen Saul Kaléko im Jahr 1928. Flucht von Berlin nach New YorkIhre ersten ‚perfekt gebauten‘ Gedichte werden in Zeitungen veröffentlicht. Sie spiegeln das Lebensgefühl der Weimarer Jahre, die sie als ihre leuchtenden beschreibt. ‚Das lyrische Stenogrammheft‘, ihr erstes Buch, erscheint 1933 und macht die junge Dichterin schlagartig bekannt. Ihr ‚Kleines Lesebuch für Große‘ erscheint bereits ein Jahr später. Mascha Kalékos vielversprechende Karriere wird durch das Publikationsverbot der Nationalsozialisten jäh beendet. Im Jahr 1938 gelingt ihr die Flucht nach New York, gemeinsam mit ihrem Ehemann Chemjo Vinaver und ihrem Sohn. Poesie und Prosa der Dichterin bekommen eine neue Färbung. Sie erscheinen allerdings nur noch in den Publikationen kleiner Exilverlage; im Jahr 1945 beispielsweise ihre ›Verse für Zeitgenossen‹. Emigration nach Jerusalem1956 reist Mascha Kaléko zum ersten Mal wieder nach Deutschland. Es erscheinen Neuauflagen ihres ‚Lyrischen Stenogrammhefts‘ und ihrer ‚Verse für Zeitgenossen‘. Im Jahr 1960 siedelt das Ehepaar Kaléko-Vinaver aus den USA nach Jerusalem um. Eine Heimat findet sie nie. Ihre Poesie verrät Heimweh und schmerzhafte Verluste. Sie bewegt sich zwischen Abschied und Ankommen, Trauer und Versöhnung, Grauen und Ergrauen. Immer wieder erinnert sie an verlorene Heimat und Fremdheit im Emigrantenleben, nach ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten, in New York und später in Jerusalem. Ein literarisches ErbeVon ihrem Umzug nach Israel im Jahr 1960 erhofft sich Mascha Kaléko einen Neuanfang. Auch hier wird sie nicht heimisch und sie erleidet ihre beiden wohl tiefsten Schicksalsschläge. Ihr Sohn Steven stirbt 1969, nur wenige Jahre später auch ihr Ehemann nach langer Krankheit. Im Juli 1974 reist Mascha Kaléko ein letztes Mal nach Europa. Sie stirbt am 21. Januar 1975 in einer Zürcher Klinik und hinterlässt uns ein bedeutendes literarisches Erbe. |
Infos zum Buch: Ich tat die Augen auf und sah das Helle | dtv Verlag
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