Einfach drauflos schreiben. Früh am Morgen. Egal was. Egal wie. Eine blöde Idee? Einfach schreiben. Ohne erkennbares Ziel. Wozu soll das gut sein? Schließlich willst du durch das Schreiben eine Frage für dich klären, ein Problem lösen, dir selbst auf die Spur kommen oder – wer weiß – vielleicht deine schriftstellerische Ader entdecken.

Doch genau das passiert durch das Schreiben von Morgenseiten, durch das scheinbar wahl- und ziellose Füllen von Papier. Wichtig dabei: Du schreibst mit der Hand, drei komplette Seiten und am besten gleich nach dem Aufwachen, so schnell wie möglich und ohne groß nachzudenken. So lauten die Vorgaben von Julia Cameron, der Erfinderin dieser Art der Selbstfindung.

„Wenn es eine einzige, einfache Technik gibt, die das Fundament eines jeden kreativen Lebens bildet, dann sind das die Morgenseiten.“ (Julia Cameron)

Die amerikanische Bestsellerautorin und Seminarleiterin für Kreatives Schreiben hat mit ihren Student*innen ausprobiert, was es bringt, täglich früh morgens die Gedanken aufzuschreiben, die uns durch den Kopf schießen. Egal ob weinerlich, kleinkariert oder negativ, ob euphorisch, zuversichtlich oder verträumt. Unabhängig davon ob du dich darüber ärgerst, dass der Wecker schon wieder zu früh klingelt, ob du Angst vor dem Termin mit dem Chef hast, dich auf ein romantisches Abendessen freust oder deinen Traumurlaub ausmalst. Alles hat Raum auf den Morgenseiten.

Unnötigen Ballst abwerfen

Durch das Schreiben am Morgen, so Cameron, saugst du alles ab, was nach dem Schlaf an die Oberfläche schwappt, sodass du zu den darunter liegenden tieferen Gedanken und Impulsen vordringen kannst. Fetzen von Träumen, aber auch Gedankenmuster, die immer wieder aufploppen. Dieser gedankliche „Müll“, wie Cameron ihn nennt, der uns belastet und unseren Blick versperrt, wird durch die Morgenseiten quasi weggeschrieben. Dadurch, dass er auf Papier gebannt ist, verschwindet er aus dem Kopf und den Gedanken. Du kannst dich klarer auf den Tag, der vor dir liegt, konzentrieren.

Kommentar aus dem ‚Off‘ abfangen

Außerdem lassen sich mit den Morgenseiten wunderbar die täglichen Offkommentare abfangen. Diese pingelige Stimme, die dir sagt, dass du gestern Abend mal wieder zu viele Chips gegessen hast. Und die dich mahnt, ja daran zu denken, den Arzttermin abzusagen. Damit all das funktioniert, ist es wichtig, dass du unzensiert schreibst. Es kommt nicht darauf an, dass du schön oder richtig schreibst, in logischer Folge oder druckreif. Das Ganze ist keine schriftstellerische Tätigkeit. Es geht einfach nur darum, die aufkommenden Gedanken niederzuschreiben, damit sie aus dem Kopf sind.

Wach für die Botschaften deine Träume

Neben der Bewusstseinsbereinigung machen dich die Morgenseiten mit dir selbst bekannt. Sie zeigen dich in deiner ganzen Widersprüchlichkeit, weisen dich darauf hin, was du magst und was du nicht magst. Du lernst dein Selbst kennen, deine Träume, deine Hoffnungen, deine Enttäuschungen, Schmerzen und versteckten Gefühle. Die Morgenseiten führen dich zu deinen wahren Interessen, Neigungen und Begabungen, zu deinen verborgenen Wünschen und Sehnsüchten.

Denn der besondere Effekt und Vorteil daran, morgens zu schreiben: Die üblichen Verteidigungsmechanismen des Egos sind noch nicht aktiviert. Du bist den aus dem Unterbewussten aufsteigenden Impulsen näher. Du bist wacher für die Botschaften, die dir deine Träume übermitteln wollen.

Dich mit dir selbst wohler fühlen

Mit den Morgenseiten tritt eine spirituelle Veränderung ein. Du beginnst, dich mit dir selbst wohler zu fühlen und dich besser zu behandeln. Dinge zu leben, die du dich bisher nicht getraut oder verleugnet hast. Du kommst dazu, zu deinem wahren Ich zu stehen.

Ganz nebenbei helfen dir die Morgenseiten dabei, dich dem Schreiben anzunähern, in dir selbst das kreative Potenzial zu entdecken, das den Künstler ausmacht. Denn dieser, so Cameron, liegt in jedem Menschen verborgen. Nur ist der Weg in unser Inneres oft verschüttet; das Alltagsgeschehen mit seinen Anforderungen dominiert unsere Gedanken- und Gefühlswelt. Um den künstlerischen Impulsen auf die Spur zu kommen, müssen wir unser Inneres ein Stück weit frei legen. Das kann durch das Schreiben geschehen, insbesondere durch das Schreiben von Morgenseiten.

Somit führt das scheinbar Ziellose doch zum Ziel: Dich selbst entdecken und dir näher zu kommen. Deine wahren Bedürfnisse erkennen und ganz nebenbei dein künstlerisches Potenzial zum Ausdruck bringen. Daher: Einfach drauflos schreiben. Früh am Morgen. Egal was. Egal wie. Keine blöde Idee!

Text: Dagmar Höner
Foto: pixabay

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