Wo ist eigentlich der alte Puppenwagen abgeblieben? Bea stellt sich diese Frage zum wiederholten Mal. Ihrem vielgeliebten Puppenpärchen aus Schildkröt hatte das antike Vehikel als Unterkunft gedient. Ein Puppenwagen aus Korb, mit gewölbtem Dach, Spitzenvolants und verschnörkeltem Griff. Romea und Julio, so mussten die beiden unbedingt heißen. „Verkehrte Welt der Namen“, hatte ihre Mutter damals bemerkt. Doch sie, Bea, war begeistert von dieser Version. Sollten doch beide kein tragisches Liebespaar darstellen, eher das Gegenteil. Und auch sie wollte die Liebe ihres Lebens finden, in ihren Bann ziehen. Dachte sie.

Romea und Julio haben einen Ehrenplatz im Gästezimmer. Seit so vielen Jahren schon. Sie sind übriggeblieben von einer umfangreichen Sammlung an Puppen, all die anderen längst verkauft oder verschenkt. Bea schmunzelt kurz, hängt dann wieder ihren Gedanken nach. So viele Sachen zum Anziehen hat sie dem Pärchen genäht. Romea hat gar ein pinkfarbenes Minikleid und Julio einen Smoking. Fein als Ausgehpaar. Doch manchmal scheint es so, als würden beide traurig dreinschauen. Immer dann, wenn es ihr selbst nicht so gut geht.
Julios Augen, so sieht es aus, sind wässrig. Romeas Grübchen wirken dann so wie andersrum. Vom Lächeln abgewandt.

Doch der Puppenwagen ? Er scheint unauffindbar, auch nach so vielen Suchaktionen. Dabei gehört er doch unbedingt dazu.
Bea überlegt. War es nicht Dirk, der den Puppen und ihrem Domizil zunächst skeptisch, dann sogar spinnefeind gegenübergestanden hatte? „Wie kann man solch ollen Kram toll finden. Und dann diese Namen. Ätzend“. Bea war zusammengezuckt. Kaum merklich.
Sie hatte längst schon gespürt, dass kaum noch etwas stimmte zwischen ihnen. Routine, Alltagsleben? Gewiss, all das konnte dazu beitragen. Aber da war noch dieses fast allabendliche Fernbleiben. Mit Überstunden nicht mehr zu entschuldigen.
Dann die Sache mit Cindy. Ihre Tochter war in eine andere Welt hinübergeglitten. Alles wegen Flo. Der Sohn von Andreas, dem Erzfeind von Dirk.

Ausgerechnet. Dabei waren beide früher mal eng befreundet, hatten auch eine Tippgemeinschaft. Ein Lottogewinn, die unauffindbare Quittung des Lottoscheines und der Verdacht, dass Andreas sie an sich genommen und das Geld an Land gezogen hatte.
„Luuucinda“. Dirk nennt seine Tochter immer dann beim richtigen Namen, wenn er total sauer ist. „Wenn ich dich und diesen Florian noch einmal erwische“…“Was ist denn dann?“ Cindy baut sich vor ihm auf, blickt ihn provozierend an. Dirk will mit der Hand ausholen, doch Bea stellt sich ihm in den Weg. „So weit kommt es hier noch. Es ist wohl am besten, wenn du zunächst mal gehst und ein paar Gänge runterschaltest“. Dirks Blick verheißt Blitz und Donner zugleich. Seine Miene scheint sekundenlang festgefahren. Doch er wendet sich ab, läuft die Stufen hinunter in den Keller.

In der Metaxaflasche ist nur noch ein kleiner Rest. Dirk stiert vor sich hin, will die Faust ballen, doch die Hände wollen ihm nicht richtig gehorchen. Andreas die Hölle heißmachen, ihm ein paar verpassen? Nun , dieser Tatendrang verschwindet schnell hinter einer Nebelwand. Immer wieder. Das Sofa hier im Kellerraum bietet stabilen Untergrund, lässt jeden Gedanken ans Aufstehen ins Wanken geraten.
„Habe ich wohl alles eingepackt?“ Cindy überlegt. Diese Stimmung hier ist einfach nicht mehr zum Aushalten, verursacht bei ihr ständig Bauchweh. Flo kann auf seinen Vater pochen, er will beiden helfen, zurechtzufinden. Und sowieso nur noch ein paar Wochen, dann hat sie offiziell alle Entscheidungsfreiheit. Sie greift nach ihrem Trolley, platziert den Brief für Bea auf ihrem Bett. Schleicht sich hinaus, wo sie in Flos Armen landet.

„Ach, sei doch still. Wer hat sie denn aus dem Haus getrieben mit seinen ewigen Meckereien und seinem herrischen Getue? Und wo sie ist, weiß ich auch nicht. Und würde dir das auch bestimmt nicht verraten. Und außerdem ist sie bald volljährig“. „Wen interessiert das schon. Wenn dieser Andreas mir nicht endlich alles erzählt, werde ich mit Sicherheit zum Killer“. „So erfährst du ganz bestimmt, wo Cindy und Flo sind. Und auch, ob du überhaupt noch an das Geld kommen kannst“.
Dirk greift sich an die Schläfe, schweigt wenige Sekunden, ringt sich ein Lächeln ab. „Vielleicht hast du recht, Schatz“, flötet er, „und ich weiß auch, dass unsere Gemeinsamkeit in letzter Zeit viel zu kurz gekommen ist. Aber ich will rausfinden, ob sich Andreas wirklich den Lottogewinn reingezogen hat“. Dirk streicht Bea über den Arm, wendet sich um, seine Schritte verklingen in Richtung Terrasse und Garten.
Von wegen. Mit der Alten nochmal anfangen? Gewiss nicht. Die wird jede Woche unpässlicher und unansehnlicher. Wie ‚ne Planschkuh. Dirk lacht laut auf, fasst sich dann an den Mund. Was merken soll sie ja nicht. Und geschnallt hat sie sicher nicht, dass Sibylle seine neue Favoritin ist.

Sibylle oder Billie, die Frau von Andreas, hatte in ihm lange schon Feuer entfacht. Und nun konnte er vielleicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Zunächst diese naive Bea loswerden, in ihm war ein Plan gereift. Und Billie – nun, kommt Zeit, kommt Rat. Sie, ganz Expertin in Sachen Angebereien, hatte ihm von Rücklagen erzählt, die ganz enorm sein sollten. Was konnte das wohl sein? Aber zurück zu Bea. Diesen schrecklichen Puppenwagen hatte er gut versteckt, der konnte ihm vielleicht noch von Nutzen sein.

Bea legt die Schaufel kurz zur Seite, lehnt sich an den Kirschbaum. Zeit hat sie genug, jetzt am Wochenende. Außerdem bietet ihr Haus direkt am Waldrand so gut wie gar keine Einblicke, ebenso der Garten. Sollte dennoch jemand aufmerksam werden, kann er dennoch nicht haargenau darauf schließen, was sie im Garten zu tun hat.

Wohl ist ihr nicht gerade, doch diese Maßnahme musste einfach sein. Dirk war angetrunken, als er den völlig zerstörten Puppenwagen direkt vor ihre Füße knallte. Als sie sich hinunterbeugte, legte er die Hände um ihren Hals. „Der Kirschbaum wird weit über dir stehen, die Erde darunter ist dein neues Zuhause“, hatte er ihr zugeraunt. Sie konnte ihn abwehren, er stürzte, lag am Boden und rührte sich nicht. Er schien sich verletzt zu haben, Blut tropfte aus einer Wunde, bahnte sich einen Weg zum zerrissenen Volant des Puppenwagens. Doch er atmete noch, ihr Griff zur schweren Bodenvase war unumgänglich… Notwehr oder nicht? Egal, es wird getan, was getan werden muss.

Romea und Julio sitzen auf der Fensterbank. Beginnen plötzlich, ihr zuzulächeln. Aufmunternd, so scheint es Bea. Nun, sie kennt das ja. Fragt sich allerdings, ob sie nicht längst zur Marionette geworden ist. Doch nein, beruhigt sie sich, jetzt hat sie ihr Leben wieder im Griff.
Wohin nun mit dem blutbehafteten Puppenwagen? Am besten ist, noch ein Loch zu schaufeln und ihn verschwinden zu lassen. Eine Kraftanstrengung mehr, die gilt es aber in Kauf zu nehmen.

Wenn Bekannte später fragen, wird sie erwidern, dass sie sich von Dirk getrennt hat und er fortgezogen ist. Mit Billie, das können alle glauben. Denn die ist abgehauen, soll einen Batzen Geld mitgenommen haben. Und ihr Techtelmechtel mit Dirk war kein Geheimnis mehr. Cindy und Flo leben mittlerweile weit weg. Werden wohl von Andreas unterstützt. So hat die ganze Schwindelei mit dem Lottogewinn doch was Gutes.
Bea betritt das Gästezimmer. Romea, scheint es, lächelt sie lieb an. Julio blickt warmherzig aus dunklen Augen.

„Von Papa habe ich nie wieder etwas gehört. Irgendwie unwahrscheinlich, dass er sich so abrupt von Mama getrennt hat. Wir haben uns ja noch einige Male gesehen, sie wirkte immer so abwesend, oft verschreckt. Dann diese Depressionen, naja, den Rest kennst du ja“. Lucinda lehnt sich an Florian, er zieht sie tröstend an sich. Nach Beas Tod sind beide in Lucindas Elternhaus zurückgekehrt, durchwandern den Garten.

„Dafür hat uns Dad so prima geholfen“. Florian blickt Lucinda an, sie nickt zustimmend. „Finanziell war der immer auf der Höhe. Ob was dran war an dem Lottogewinn. Naja, soll sein Geheimnis bleiben“.
Lucinda blickt zur Fensterbank. Ach ja, die alten Puppen, Romea und Julio. Bea hat sie zurückgelassen. Obwohl eigentlich damit zu rechnen war, dass sie beide mitnehmen würde ins Grab.

Was ist das? Lucinda glaubt, nicht richtig zu sehen. Beide Puppen zwinkern ihr zu, lächeln. Doch im nächsten Augenblick wieder die vertrauten Mienen. Ach, denkt sie, ich scheine Gespenster zu sehen. Dreht sich nach Florian um.
Der stolpert plötzlich, stürzt beinahe. Entdeckt dann, dass etwas aus der Erde unter dem Kirschbaum ragt. Er kniet sich hin und betrachtet den Störfaktor. Es ist eine Lenkstange oder ein Haltegriff, verschnörkelt, wie der Griff eines alten Puppenwagens.

Text: Gitta Wittschier,
Foto: ZEN SUMR / Adobe Stock

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