Frau Holle reloaded

Es waren einmal zwei Schwestern. Die eine hieß Tamara. Sie hatte rosa Lackschuhe und ihre langen, blonden Haare waren immer ordentlich gekämmt. Vor dem Essen wusch sie ihre Hände und ließ nie was rumliegen. Sie malte Bilder von Prinzessinnen mit schönen Kleidern, und liebte es, ihre Puppen zu frisieren. Die andere hieß Roberta, aber alle nannten sie Bobby, weil sie eher ein Junge war. Sie hatte ständig verstrubbelte Haare, dreckige Hände und spielte am liebsten Fußball oder Pirat. Oder, wenn sie durfte, das Feuerwehrspiel am Computer. Aufräumen fand sie blöd.

Eines Abends sollte Bobby zum Essen kommen und ihre Spielsachen mit reinbringen. Doch der Bagger, mit dem sie immer Matsche schaufelte, war nicht da.
„Au weia! Das gibt Ärger, wenn ich den nicht finde“, dachte Bobby. Denn der Bagger war noch ziemlich neu.
Also suchte Bobby noch mal ganz gründlich. Im Gras und hinter dem Baum. Doch der Bagger blieb verschwunden. Aber hinter der großen Hecke, da blitzte was Gelbes.
Eigentlich durften sie nicht aufs Nachbargrundstück, aber Bobby musste den Bagger wieder haben. Also wurschtelte sie sich durch die Äste und Zweige und gelangte auf die andere Seite.

Plötzlich stand sie auf einer riesigen grünen Wiese mit Fußballtoren; etwas weiter lag ein See und in der Ferne sah man schneebedeckte Berge.
Bobby rieb sich die Augen. Wie konnte das sein? Sie wohnten doch mitten in der Stadt, zwischen ganz vielen Häusern, und dies hier sah aus wie ein anderes Land.

Sie ging über die Wiese. Plötzlich rollte ein Fußball auf sie zu: „Schieß mich ins Tor!“, bettelte er. „Ich will endlich mal siegen!“
Bobby überlegte nicht lange. Schließlich war sie Stürmer bei den Minikickern. Sie nahm Anlauf und kickte den Ball in hohem Bogen ins Tor.
Als er im Netz lag, ertönten laute Fanfaren und Jubelschreie, als wären sie in einem richtigen Fußballstadion.

Bobby ging weiter und kam an den See. Am Ufer lag ein großes Boot aus dunklem Holz mit riesigen Masten, großen Segeln und schweren Tauen. „Bitte, bitte, erobere mich!“, bettelte das Boot. „Ich wollte immer schon ein echtes Piratenschiff sein!“
Das ließ Bobby sich nicht zwei Mal sagen. Schließlich war sie der gefürchtetste Pirat im ganzen Kindergarten und Pippi in Taka-Tuka-Land ihr Lieblingsbuch.
Sie schnappte sich das Piratenkostüm und den Säbel, die am Ufer lagen, sprang auf das Boot und lieferte sich einen spektakulären Luftkampf mit dem imaginären Kapitän des Schiffes.
„Ja, gib’s ihm!“, feuerte das Boot sie an. Und als der finstere Kapitän mit dem Holzbein besiegt war, den Bobby über das ganze Deck gejagt hatte, hisste das Boot die Piratenflagge.

Dann kam Bobby zu den Bergen. Auf dem größten saß eine Frau, die mit spitzen Fingern weiße Blätter in Stücke riss und die Schnipsel auf die Erde fallen ließ.
„Was machst du?“, fragte Bobby verwundert.
„Ich mache Konfetti, damit die Menschen auf der Erde glauben, dass es schneit“, sagte die Frau mürrisch. „Eigentlich ist das der Job von Frau Holle. Aber die macht eine Weiterbildung „Schnee für Fortgeschrittene“, damit sie die neue Schneekanone bedienen kann. Ich springe nur für sie ein. Eigentlich bin ich Friseurin.“
„Die Schneekanone funktioniert ja ganz ähnlich wie ein Feuerwehrschlauch“, sagte Bobby, und schaltete das Gerät an.
Die Friseurin war beeindruckt. „Willst du nicht länger hier bleiben?“, fragte sie.
Bobby nickte. Warum eigentlich nicht? Schneekanone bedienen machte Spaß.

Doch bald wurde es Bobby langweilig. So oft konnte sie die Schneekanone nämlich nicht einschalten, da es gar nicht mehr so häufig schneit auf der Erde, wegen Klimawandel und so.
Außerdem guckte die Friseurin immer nur blöde Sendungen im Fernsehen. Wo man Klamotten einkaufen konnte. Und an den Computer durfte Bobby auch nicht.
Sie wollte wieder kämpfen, Fußball und im Matsch spielen und zurück nach Hause.
„Schade“, sagte die Friseurin. „Dann muss ich wohl wieder Konfetti machen.“
Als Dank fürs Helfen gab sie Bobby ein buntes Paket mit vielen Schleifen und Glitzer. „Das darfst du aber erst zu Hause auspacken“, sagte sie.

Als Bobby zurück war, fragte Tamara sofort: „Wo hast du das Paket her? Ich will auch so eins.“
„Dann geh doch zu der Friseurin auf dem Berg“, meinte Bobby und spielte mit ihrem Bagger, den sie tatsächlich hinter der Hecke wiedergefunden hatte.

Tamara ging sofort los und kroch aufs Nachbargrundstück. Auch sie stand auf der grünen Wiese.
Doch als der Fußball sie bat, ein Tor zu schießen, kickte sie meilenweit daneben, obwohl es ja eigentlich ein Freistoß war.
Und auch auf dem Piratenschiff hatte Tamara kein Glück, denn sie wusste noch nicht mal, wie man die Augenklappe umbindet, und mit dem Säbel zeichnete sie Blumen in den Sand.

Als Tamara auf dem Berg ankam, freute sich die Friseurin sehr. Nun hatte sie endlich mal wieder jemand zum Haare schneiden, und die beiden unterhielten sich über Frisuren und Klamotten.
Doch leider konnte Tamara die Schneekanone nicht bedienen; und statt Papierschnipsel zu reißen schnitt sie ganz ordentlich Eiskristalle aus. Bis sie einen richtigen Schneefall beisammen hatte, dauerte es sehr lange.
Darum sagte die Friseurin Tamara, dass sie wieder nach Hause gehen dürfte.
Tamara fand das ganz in Ordnung, denn eigentlich malte sie viel lieber als ausschneiden.

Auch sie bekam als Dank für ihre Hilfe ein Paket. Allerdings war das nur in Packpapier eingepackt und mit einem Bindfaden zugebunden. Und darin befand sich ein kleines Feuerwehrauto.
Auch Bobby hatte mittlerweile ausgepackt. In ihrem Paket war eine riesige Puppe und ein Frisierset.
„Was soll ich denn damit?“, riefen die Mädchen entsetzt.
„Vielleicht könnt ihr ja tauschen“, schlug ihre Mutter vor.
Aber Tamara und Roberta schüttelten den Kopf.

So kam es, dass ein kleines, blondes Mädchen mit rosa Lackschuhen bald wusste, wie ein Feuerwehrschlauch funktioniert, und ein kleines Mädchen mit dreckigen Händen und Augenklappe konnte ihrer Puppe nach ein paar Tagen eine perfekte Hochsteckfrisur zaubern.

Text: Dagmar Höner, Enger

Foto: Viktoriia / Adobe Stock

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