Das Lied des Wintervogels

„Da bist du ja! Warum sitzt du bei dieser Kälte hier im Park?“ Paul wirft seine Tasche mit den Projektunterlagen neben seinen Freund Elias und setzt sich neben ihn, nicht jedoch ohne seinen Mantel dicht an sich zu ziehen. „Wollen wir nicht lieber in die Kantine gehen?“ „Ich höre dem Wintervogel zu.“ „Dem Wintervogel?“ Paul lacht. „Hier ist weit und breit kein Vogel zu sehen. Und auch keiner zu hören.“

„Du musst still sein, um das Lied des Wintervogels zu hören.“ Elias lächelt. Er hält die Augen geschlossen. Paul seufzt. Elias wurde allmählich wunderlich. Ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als so zu tun, als hörte er auch diese Melodie, von der Elias nun spricht, leise, so als ob sie bei einem lauten Ton verklingen würde. „Hörst du? Das Lied des Wintervogels.“

„Nein“, sagt Paul schließlich. „Ich höre nichts. Und, ehrlich gesagt, ist mir kalt. Ziemlich kalt.“ „Schließ deine Augen“, bittet Elias ihn. „Öffne deine Ohren und höre, wie der Wintervogel zu singen beginnt. Öffne in Gedanken deine Hand, denn er wird sich dort niederlassen für sein Lied.“

Paul tut, was Elias will. Am besten, er brachte das hier so schnell wie möglich hinter sich. Und danach würde er seinen Freund mit in die Kantine nehmen. Wenn sie noch lange hier saßen, bekämen sie nicht nur einen Frostschaden, sondern auch nichts mehr zu essen. Elias erzählt leise weiter: „Der Wintervogel ist klein, so klein, dass die meisten ihn nicht einmal sehen in seinem dunklen, grauen Federkleid. So wie du.

Und doch ist er da. Bei dir. Und dann, ganz vorsichtig, nimmt er die Stille des Winters in seinen Schnabel, damit er sie nicht zerbricht und verleiht ihr seinen Atem. Und was du dann hörst, dieses wunderbare Lied, das ist das Lied des Wintervogels.“

Paul seufzt noch einmal. Doch dann schließt er die Augen, wie Elias ihn ermuntert und stellt ihn sich vor, diesen kleinen Wintervogel mit seinem grauen Federkleid, er stellt sich vor, wie dieser Winzling sich auf seine Hand setzt, die Stille des Winters in seinen Schnabel nimmt und daraus die Melodie wird, die Elias so verzaubert. Nichts anderes ist mehr sonst in diesem Moment. Nur noch ein kleiner Vogel, der in seiner Hand sitzt und für ihn sein Lied singt. Sonst ist Stille.

Und plötzlich spürt Paul, wie sein Atem langsamer geht, seine Atemzüge nach diesem Tag endlich länger, die Forderungen des Tages leiser werden und Raum schaffen für die leisen Töne der Ruhe, die in ihm zu klingen beginnen. Töne wie von einer Klangschale, angestoßen von dem Atem, den der Vogel ihm nun selbst gibt.

Paul spürt das Lächeln, das nach und nach um seinen Mund und seine Augen zieht. Wie konnte er dieses Lied vorher überhört haben? Wie hatte er nur annehmen können, dass Elias wunderlich wurde?  „Ich höre das Lied des Wintervogels jetzt“, sagt er schließlich leise und greift nach der Hand seines Freundes. „Es ist das schönste Lied, das ich seit langem gehört habe.“

Text: Kirsten Schwert, Herford

Foto:  oxygen2608 / photocase.de

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