Wenn wir schreiben, lassen wir unsere Kreativität fließen, wir sind buchstäblich ‚im Flow‘. Dabei ist es auch aus Sicht der Bestsellerautorin Julia Cameron die Idee, unser kreatives Potential zu entfalten, um im Alltag schöpferisch tätig zu sein, was immer wir auch tun. Denn es geht eben nicht darum, Meisterwerke zu schaffen oder berühmt zu werden, sondern unsere schöpferischen Fähigkeiten zu entdecken, wertzuschätzen und zu genießen, die uns bereits in die Wiege gelegt wurden.

Der ‚Weg des Künstlers‘ ist ein praktisches Arbeitsbuch. Mit einem 12-Wochen-Programm leitet Cameron den Prozess der kreativen Entfaltung an und verfolgt mit ihren Anregungen und Arbeitsaufträgen einen ganzheitlichen Ansatz: die Chance zur ‚Selbstheilung‘ durch die Entfaltung unser Schöpferkraft als nie versiegende Quelle. Eine entscheidende Technik ist dabei das ‚Morgenseiten schreiben‘. „Wenn es eine einzige, einfache Technik gibt, die das Fundament eines jeden kreativen Lebens bildet, dann sind das die Morgenseiten“, so Julia Cameron.

Selbstcoaching für jeden Tag: So geht’s:

  • Wir schreiben täglich, mindestens 30 Tage lang, damit das Schreiben zur Gewohnheit wird.
  • Möglichst direkt nach dem Aufstehen – als festes Ritual.
  • Drei Seiten, spontan und ohne nachzudenken.
  • Alles, was uns gerade in den Sinn kommt. Keine anspruchsvollen Texte oder schriftstellerischen Höchstleistungen!

 

Wie generell beim kreativen Schreiben geht es um Spontanität. Wir schreiben einfach nieder, was uns gerade umtreibt: Griesgrämigkeit, schlechte Laune, der Ärger über den Nachbarn, die Sorge um das Kind. Ja, es darf auch kleinkariert sein! Und wir dürfen uns selbst loben und beweihräuchern. Alles ist erlaubt! Kurz: Wir geben allem Raum, was sich als steter Gedankenstrom im Geist manifestiert, indem wir es aufschreiben – und es damit loslassen! Julia Cameron bezeichnet das Schreiben als „Absaugen der Geistesoberfläche“, damit wir zu tieferen Gedanken und Impulsen vordringen können.

Verstoffwechselung des Lebens

Morgenseiten schreiben, so sagt sie, sei eine ‚Technik zur Verstoffwechselung des Lebens‘: Man schreibe in schlechten und guten Zeiten, verarbeite Tod, Scheidung, Karriereknick und zerbrochene Freundschaft. Alle Winkel des Lebens werden beleuchtet: Träume, Hoffnungen, Enttäuschungen, Schmerzen; man macht Bekanntschaft mit seinen versteckten Gefühlen. Wichtig sei es, mit der Hand zu schreiben.

„Die Hand über die Seiten führen bedeutet, Leben in die Hand nehmen.“

 

Damit es klappt, können wir uns morgens den Wecker eine halbe Stunde früher stellen und sofort anfangen mit dem Schreiben. Denn in den ersten fünfundvierzig Minuten des Tages sind die üblichen Verteidigungsmechanismen des Egos noch nicht aktiviert und wir den im Unterbewusstsein aufsteigenden Impulsen näher. Wir sind wacher für Botschaften, die aus Traumzuständen übermittelt werden. Und sollten uns hartnäckigen Gedanken, die immer wieder auftauchen, sowie verborgenen Wünschen und Sehnsüchten öffnen. Julia Camerons wichtigster Appell: Lassen Sie den Bewusstseinsstrom frei fließen – und lesen Sie am Ende nicht, was Sie geschrieben haben!

Ein kreativer Reiseprozess

Obwohl der Inhalt der Morgenseiten scheinbar nichts mit Kunst zu tun hat, führen sie uns laut Cameron oftmals zu einem Leben, in dem Kunst eine größere Rolle spielt und letztendlich zur Kunst selbst. Alte Träume und verloren geglaubte Anteile unserer Persönlichkeit kommen wieder zum Vorschein. Es ist wie eine Heimkehr. Ein kreativer Reiseprozess, der für jeden anders aussieht: Manche entdecken ihre Leidenschaft für Gedichte, andere fangen an, ein Instrument zu spielen, ein Bühnenstück zur Aufführung zu bringen oder Kunstwerke zu gestalten.

Text: Dagmar Höner

Julia Cameron: Der Intensivkurs zum Weg des Künstlers, 2007, Knaur Verlag,  ISBN: 978-3-426-87360-1

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